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Leutnant '90

Einsatzgespräche

Im ersten Quartal des 4.Studienjahres lagen normalerweise die wichtigsten Schritte der Ausbildung hinter uns Offiziersschülern: die Fliegerische Hautprüfung ebenso wie die letzen Stunden der spezialfachlichen Ausbildung. Die Fortsetzung der Ausbildung sah in den 80er Jahren zwei Wege vor:

  • Ein Teil der Offiziersschüler wurde nach Frunse (Kirgisische SSR/ UdSSR) versetzt, um dort die Ausbildung auf der Mi-24 fortzuführen. Dafür war in den vergangenen 3 Jahren die spezialfachliche Ausbildung der genau dafür zusammengestellten 1.Kette gestrafft worden, auch war schon mit Ende des 3.Studienjahres die Fliegerische Hauptprüfung absolviert.
  • Der verbleibende Teil der Offiziersschüler wurde etwas später im 4. Studienjahr nach dem planmäßigen Absolvieren der letzten theoretischen Ausbildungsstunden und der Fliegerischen Hauptprüfung in die zukünftigen Einsatztruppenteile versetzt. In diesem Truppenpraktikum wurde die Ausbildung weitergeführt.

Im Vorfeld der Versetzungen wurden die Einsatzgespräche zu den künftigen Dienstorten geführt. Nach Möglichkeit sollte jeder Offiziersschüler bereits dort sein Truppenpraktikum absolvieren, wo er später auch dienen würde. Bei den Einsatzgesprächen entschied sich der weitere Lebensweg für die allermeisten Offiziersschüler und brachte so gewaltige Konsequenzen für die persönlichen Lebensumstände mit sich. Im Nachhinein ergab sich nur selten die Möglichkeit, in andere Truppenteile zu wechseln.

Für die an der OHS ausgebildeten Hubschrauberführer kam eine sehr überschaubare Anzahl an Standorten in Betracht. So gesehen waren wir froh, nicht das Los vieler Jagdflieger zu teilen und in noch einsameren Gegenden abseits des Lebens Dienst tun zu müssen. Folgende Hubschraubereinheiten standen primär zur Diskussion:

  • Kampfhubschraubergeschwader 3 (KHG-3) in Cottbus
  • Kampfhubschraubergeschwader 5 (KHG-5) in Basepohl
  • Transporthubschraubergeschwader 34 (THG-34 Briest)
  • Marinehubschraubergeschwader 18 (MHG-18 in Parow/ Stralsund)
  • Hubschrauberstaffel 16 (HS-16 der Grenztruppen in Nordhausen)

Prinzipiell wäre der Vollständigkeit halber die Liste auch um die Hubschrauberstaffeln zur Führung und Aufklärung (HSFA-3 und HSFA-5 in Cottbus bzw. Basepohl) und das HAG-35 selbst zu ergänzen, jedoch ging in diese Einheiten und Truppenteile normalerweise kein Absolvent der OHS - sie rekrutierten ihr Personal in aller Regel aus erfahreneren Offizieren aus dem Truppendienst.

Die zivile Interflug der DDR und die VP-Hubschrauberstaffel (Volkspolizei) benötigten nur sehr wenige HSF. Nur gelegentlich trat die Interflug an die Ausbildungsstätte der NVA heran und suchte junge Hubschrauberführer aus dem Bestand der Offiziersschüler. Und nicht in jedem Falle war der auserwählte Offiziersschüler begeistert von diesem unerwartet dargebotenen Wechsel in das zivile Leben. Zwar konnte man so der militärischen Zwickmühle elegant entkommen und ein Leben als Zivilperson führen, jedoch bot der Spezialflug der Interflug (Kranflug und Agrarflug) nur wenig fliegerische Abwechslung und verdammte die Flieger oftmals zu pausenlosen, erschöpfenden Standschweben. Das Angebot ist sogar von Offiziersschülern abgelehnt worden!

Im Vorfeld der Einsatzgespräche ist jeder Offiziersschüler nach seinen Wunsch befragt worden; ob dieser nun tatsächlich erfüllt würde, stand zumeist in den Sternen. Zu viele entschieden sich für die „großen“ Standorte, die näher an der Zivilisation waren als andere. Heiß begehrt war in allen Jahren Cottbus, Brandenburg und insbesondere bei den geborenen „Fischköpfen“ Parow. Zum genauen Gegenteil avancierte Basepohl in der Nähe von Stavenhagen/ Bezirk Neubrandenburg. In Fliegerkreisen hatte es respektlos den Namen Der 3.Pol der Welt erhalten, denn es lag weitab von jeder Großstadt. Zu DDR-Zeiten, als der eigene PKW zu Luxusartikeln zählte und die Kleinstadt mit den beschränkten Einkaufsmöglichkeiten auch weit hinter dem erhofften kulturellen Leben zurück blieb, war der Dienstort Basepohl für die meisten der Albtraum eines Wohnortes. Naturgemäß traf es diejenigen Offiziersschüler, die nicht verheiratet waren und damit für die Ehefrau in dieser Gegend nicht auch noch Arbeit zu suchen hatten. Echte Forderungen konnte indes kein Offiziersschüler bei den Einsatzgesprächen stellen; auch eine ausgezeichnete Studienleistung brachte hier nur wenig Vorteile. Im Gespräch mit den Verantwortlichen des Kommandos der LSK/LV wurden dann noch einmal alle Faktoren abgeklopft, mit Fragen nach der Art „Wären sie denn auch bereit, an einem der folgenden Orte…“ die persönliche Bereitschaft des einzelnen überprüft - wenngleich sich auch niemand der Offiziersschüler ernsthaft zu einer negativen Beantwortung der Frage durchringen konnte. Letzten Endes musste sich jeder in das ihm befohlene Ziel fügen. 

Anders jedoch verliefen die Gespräche für meinen Ausbildungskurs. Bereits deutlich vor der Wendezeit waren Anfang 1989 einseitige Abrüstungsbemühungen der DDR unternommen worden (einige Ausführungen hier). Gemeinsam mit Panzerregimentern der NVA wurde auch die Mi-24-Ausbildung in Frunse „abgerüstet“! Unsere 1.Kette war darüber nicht traurig, bedeutete es doch für uns ein erheblich angenehmeres Leben, da wir nun in der DDR bleiben und nicht ein Jahr fernab der Heimat verbringen würden. Allerdings standen nun die Truppenteile vor der Aufgabe, weitere 25 Offiziersschüler bei einem Praktikum im 4.Studienjahr unterzubringen.

Als Folge der Wende und der damit einziehenden Veränderung der NVA-Struktur verzögerten sich unsere eigenen Gespräche bis in den Januar 1990. Zu diesem Zeitpunkt war in den obersten Ebenen schon vorhersehbar, dass ein großer Teil der nun ausgebildeten Hubschrauberführer nicht mehr gebraucht würde - dieses Problem war jedoch „hausgemacht“ und schon allein durch die Menge der in den vergangenen Jahren herangebildeten Offiziersschüler verursacht worden. Immerhin kamen in den 80er Jahren jedes Jahr 60 bis 90 neue Hubschrauberführer in die Einsatztruppenteile der NVA. Als 1989 auch noch der erste Jahrgang der als II. HSF/ Operateur ausgebildeten Fähnriche die OHS in Brandenburg abschloss, trat der Überhang an fliegendem Personal erst recht zu Tage. Woher all die Hubschrauber für die vielen Piloten nehmen? Eine solche Menge Hubschrauber konnte es ganz einfach in der NVA nicht geben! Die Geschwaderkommandeure konnten die vielen ihnen zur Verfügung stehenden Hubschrauberführer beim besten Willen nicht einsetzen. Von bekannten und befreundeten Hubschrauberführern in den Geschwadern hörten wir, dass es inzwischen zur Norm wurde, einen III. HSF, den es eigentlich nicht gab, auf dem Sitz des Bordtechnikers mitfliegen zu lassen. So wurde der Pilot wenigstens mit Navigation beschäftigt, wenngleich davon nicht eine Minute in seinem Flugbuch auftauchte. Gerüchte über die Neuanschaffung von Hubschraubern (die dann als Mi-24P kamen, weit nach der Wende erfuhr man stellenweise auch von NVA-Plänen zum Erwerb von Kamow-Kampfhubschraubern) kannten wir bis dahin nicht, wären aber auf Grund der staatlichen und militärischen Geheimhaltung ohnehin den meisten Hubschrauberführern verborgen geblieben.

Die Wende und Umgestaltung der DDR im Jahre 1990 eröffnete nun auf einmal für die Offiziersschüler des 4.Studienjahres die Möglichkeit, den Dienst zu quittieren und so gar nicht erst in die Truppenteile versetzt zu werden. Diese Option nahm gut die Hälfte meines eigenen 86er Ausbildungsjahrgangs in Anspruch. Diese Offiziersschüler absolvierten nun ein gestrafftes Diplomverfahren. An Einsatzgesprächen brauchten sie selbstredend nicht mehr teilnehmen. Eine Ausbildung zum II.HSF führten sie nicht durch, dafür konnten sie sich auf die Erstellung der Diplomarbeiten konzentrieren. So hielten sie das Diplom bereits gute 3 Monate vor dem für die anderen Offiziersschüler geplanten Zeitpunkt in den Händen.

Unsere Einsatzgespräche brachten die übliche Verteilungsquote der an den Tag. Ein guter Teil der Absolventen war für Basepohl vorgesehen, ein weiterer für Cottbus. Einige Offiziersschüler nach Parow, etliche nach Nordhausen zu den Grenztruppen.

Ernennung zum Leutnant

Die Ernennung der Offiziersschüler zum Leutnant bildete den Abschluss der Studienzeit. 4 Jahre des Lernens lagen hinter den Offiziersschülern, neben den (angenehmen) fliegerischen Erfahrungen auch gefüllt mit zahlreichen (unangenehmen) persönlichen Entbehrungen und Widersinnigkeiten, die das militärische Leben mit sich brachte. Lehrjahre sind keine Herrenjahre - dieser Spruch existierte wohl bereits hundert Jahre und galt nun gleichermaßen für uns Offiziersschüler. Mit der Ernennung sollten unsere Lehrjahre vorbei sein; als Offiziere und ausgebildete Hubschrauberführer standen uns nun - in übertragenem Sinne - die Herrenjahre bevor.

Die Ernennung zum Leutnant wurde in feierlichem Rahmen im Gesamtbestand der OHS durchgeführt,in aller Regel in einem Zeremoniell in der Öffentlichkeit. Auf Grund der Abtrennung der OHS der LSK/LV für Militärflieger im Jahre 1986 war nun der Kreis der angehenden Leutnants gegenüber den vorherigen Kamenzer Zeiten geschrumpft. So wurde seither die Ernennung der künftigen Flieger aller Verwendungen in Bautzen, dem Standort der OHS für Militärflieger, durchgeführt.

Für meinen Ausbildungskurs 1986-90 nahte im August 1990 die Ernennung. Die Diplomverfahren lagen hinter uns. Am 11.August sollten wir in Bautzen in den Dienstgrad eines Leutnants versetzt werden. Zu diesem Zeitpunkt war unsere Welt bereits gehörig aus den Fugen geraten; die Wende hatte uns ereilt (siehe dazu auch Kapitel Wende). Die NVA diente nicht mehr der Arbeiter- und Bauern-Regierung, auf die wir 4 Jahre zuvor unseren Fahneneid abgelegt hatten. Eine neue Regierung, der wir erst wenige Wochen zuvor unsere Treue gelobten, stand an der Spitze des Staates. Ein Aufgehen der DDR in einer „großen“ BRD war greifbar nahe, wenngleich Anfang August 1990 der genaue Termin noch nicht fest stand. Unser Ministerium, das über die Verteidigung der DDR wachte, nannte sich nun Ministerium für Abrüstung und Verteidigung (Ministerium für A&V, respektlos als Ministerium für An- und Verkauf verschrieen, der in der DDR gängigen Abkürzung A&V folgend). Jede Zukunftsdiskussion in eben diesem Ministerium unter dessen Minister R.Eppelmann brachte hervor, dass die NVA in ihrer bisherigen Form nicht mehr weiter existieren könne - eben teilweise abgerüstet werden müsse. Eine Anpassung an BRD-deutsche Maßstäbe tat offensichtlich Not, dazu zählte ebenso die Reduzierung des Personalbestandes und insbesondere des Offiziersanteils in den Streitkräften. Immerhin war die NVA zu einem erheblichen Teil mit Berufskadern ausgestattet, die für 25 Jahre Dienst taten. Schon in den letzten Monaten seit April 1990 war auf die Ausdünnung der NVA hingearbeitet worden. Auch an unserer OHS eröffnete sich damals völlig überraschend für jedermann die Möglichkeit, aus der weiteren fliegerischen Ausbildung im Zuge der unmittelbaren Vorbereitung auf den Truppendienst auszuscheiden und sich vollends auf die Diplomarbeit zu konzentrieren, um in einem vorgezogenen Diplomverfahren bereits einige Wochen vor uns angehenden Leutnants das Diplom zu erhalten und anschließend aus der NVA verabschiedet zu werden.

Der Kreis unserer Offiziersschüler war zusehends geschrumpft. Gut die Hälfte von ihnen hatte die Chance zum „Ausstieg“ genutzt - tatsächlich kam man - ohne jede weitere negative Konsequenz - völlig unkompliziert ins Zivilleben zurück. Die bisherigen Ansichten, die wir seit dem ersten Tage unseres Offiziersschüler-Daseins kannten, standen auf dem Kopf. Was einst nur mit dem E-Gesuch (Entlassungsgesuch) und nur unter extremen persönlichen Nachteilen möglich wurde, nämlich aus dem (zukünftigen) Offiziersberuf auszuscheiden, war nun innerhalb weniger Wochen erledigt. Welche Veränderung! Diese Offiziersschüler hatten ihr Dasein in Brandenburg bereits im Juni beendet; sie sahen sich nun nach einem anderen, zivilen Studium oder einer Arbeitsstelle um.

Für uns verbliebene Offiziersschüler reichte ein einziger Bus aus, um am Vortag der Ernennung nach Bautzen zu reisen. Aus zahllosen Flugdiensten war uns der Ikarus bestens bekannt, nun würde er uns ein letztes Mal nach Bautzen und zurück transportieren. Innerlich bereiteten wir uns auf den großen Moment vor: Schlussstrich unter 4 Jahre Ausbildung! Entsprechend leicht war uns zumute, sollte doch nun der neue Lebensabschnitt jenseits unserer Lehrjahre beginnen.

OHS Bautzen, Eingangsbereich (2005). Bild: Lutz Kobert OHS Bautzen, Eingang Regimentsklub (2005). Bild: Lutz Kobert Bautzen empfing uns ungewohnt. Die Stätte, die jahrelang unsere Fliegerelite, die Jagdflieger der NVA, ausgebildet hatte, schien nun verwaist. Angehende Jagdflieger gab es praktisch überhaupt nicht mehr. Auch deren Ausbildung war über Nacht eingestellt worden, offensichtlich kam man mit MiG-Piloten in der künftigen Bundeswehr noch weniger zu Recht als mit uns Hubschrauber- oder Transportfliegern. Die OHS in Bautzen bot nun einen völlig lockeren Eindruck, die militärische Angespanntheit war vollends verschwunden. Durch das OHS-Gelände marschierten keine Züge von Offiziersschülern mehr, die allgemeine Anarchie hatte diese Dienststelle ebenso ereilt wie uns in Brandenburg. Auch für uns gab es jetzt nur noch wenig zu tun: die Uniformjacke mit Schulterstücken Leutnant war schnell in den Schrank der provisorischen Unterkunft gehängt. Nun hieß es, den Abend totzuschlagen. Problemlos begaben wir uns in Zivilkleidung in den Ausgang. Die Gaststätten in Bautzen, sonst bei unseren raren Besuchen stets gefüllt mit Uniformen, sahen nun ganz anders aus. Wir genossen unseren letzten Abend als Offiziersschüler mit ungewohnter Leichtigkeit und sicher auch reichlich Alkohol. Am nächsten Tage würde ein neues Leben beginnen.

Samstag, der 11.August: die Ernennung nahte. Viele Eltern, Ehefrauen oder Freundinnen waren zu diesem Ereignis nach Bautzen gekommen, schließlich stellte es den Abschluss unseres Offiziersschülerlebens dar. Der Moment, auf den wir volle 4 Jahre hingearbeitet hatten. Uns manches Mal wie das fünfte Rad am Wagen fühlten. Nun waren wir am Ziel - warum sollten wir das nicht genießen? Alles andere war Nebensache. Der Regimentsklub der Bautzener Dienststelle, mir sonst aus OHS-weiten, besonderen Veranstaltungen bekannt, sollte heute ganz allein für uns da sein. Öffentlich war die Veranstaltung indes schon längst nicht mehr. Inzwischen war die NVA ein nur wenig wünschenswerter Repräsentant der Staatsmacht DDR geworden.

Bereits zu dieser Veranstaltung trugen wir unsere vorschriftsmäßigen Leutnants-Uniformen. Während in vorhergehenden Jahren in der Öffentlichkeit eine richtige Paradeuniform inklusive Stahlhelm und – des Ernennungszeremoniells wegen - abgedeckten Leutnantschulterstücken zur Schau getragen wurde, war nun allein ein weißes Hemd der echte Unterschied zu einer normalen Dienstuniform geworden. Die Trageweise der Auszeichnungen („Orden lang“) berührte uns frische Leutnants nicht, hatten wir doch noch gar nichts dergleichen vorzuweisen. Aus den Händen von Vorgesetzten würden wir heute unsere Absolventenabzeichen und Diplomzeugnisse erhalten. Vorgesetzte waren nun auch allerlei Personen ohne Uniform geworden: ein Ministeriumsbeauftragter übernahm die „verantwortungsvolle“ Aufgabe. Der Abgesandte des Pfarrers Rainer Eppelmann hielt seine Rede, die den nahen Übergang des NVA-Personalbestandes in die Bundeswehr hervorhob und gleichzeitig in beschwörenden Worten die notwendige Reduzierung des verbleibenden NVA-Offiziersbestandes forderte. Was in seinen Augen unabdingbar war, würde eine Tages Gesetz; so viel war uns klar. Eine echte berufliche Zuversicht konnte uns der Herr an seinem Rednerpult nicht bieten. Die anschließende Überreichung der Absolventenabzeichen durch ihn, die wir im Übrigen nicht mehr mir den sonst heroisch-überzeugend hervor gestoßenen Worten Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik! zu quittieren hatten, barg eine neue Überraschung: echte Unikate zierten nun unsere Uniform! An die Stelle des üblichen Emblems aus Hammer, Zirkel und Ährenkranz war nun etwas Neues getreten - ein Soldatenkopf, immerhin noch mit der Formgebung eines NVA-Stahlhelms, prangte in der Mitte des weiß-roten Absolventendreiecks. Die Qualifikationsspange, deren geforderte theoretische Nachweise wir zwar schon Monate zuvor erbracht hatten, uns jedoch auf Grund der fliegerischen Befähigung erst jetzt überreicht wurde, zeigt nun anstelle des DDR-Emblems einen Farbklecks. Die DDR war weg. Unikat Absolventendreieck 1990 Qualispange 1990Auch andere Äußerlichkeiten eines Offiziers waren in vergangenen Monaten der Umgestaltung zum Opfer gefallen: die althergebrachte Paradeuniform gab es schon seit Januar nicht mehr in der bekannten Form, denn die Stiefelhose war abgeschafft worden. Ebenso gehörte nun der Offiziersdolch nicht mehr zur Paradeuniform der Offiziere. Wir wurden im denkwürdigen Jahr 1990 der erste Jahrgang, der keinen Offiziersdolch mehr anlässlich der Ernennung zum Offizier erhielt. Über die Gepflogenheiten in den zurückliegenden Jahren hatten wir uns zwar ab und an mokiert - immerhin war der Dolch normalerweise kostenpflichtig (schwankende Angaben zwischen 70,- und 130,- Mark im Laufe der Jahre, außer für Absolventen mit Prädikat Mit Auszeichnung, welche den Dolch inklusive Gravur „geschenkt“ bekamen) - und auch wenn Stiefelhosen und Paraden nicht immer der Liebling der Berufssoldaten waren, so fehlte nun doch ein Stück Tradition. Das erste Jahr ohne Dolch.

Mit gemischten Gefühlen verließen wir nach Ende der Veranstaltung den Regimentsklub. Rechte Freude über dieses Zeremoniell stellte sich bei vielen nicht ein. Wie würde es für uns wohl in den Hubschraubergeschwadern weiter gehen? Sicher würden die Worte des Ministeriumsbeauftragten für viele das Ende in der NVA oder der späteren Bundeswehr bedeuten - und das jetzt, wo wir unsere Lehrjahre überwunden hatten! Aber kaum jemandem ist in diesem Momente die Tragweite des Tages in Bautzen zu Bewusstsein gekommen, zu wenig konnten wir in die Zukunft blicken. Noch vertrauten wir unseren vorgesetzten Stellen und dem Staat, der wohl alles für uns regeln würde.

Für die Rückfahrt nach Brandenburg kletterten wir erneut in unseren Bus, der uns tags zuvor hierher geschafft hatte. Lockere Gespräche mit unseren unmittelbaren Vorgesetzten, die uns die letzten Jahre geführt hatten, machten die Runde. Zweifellos erfüllte es auch sie normalerweise mit Stolz, ihre Schützlinge erfolgreich und mit guten Ergebnissen bis zum Leutnant begleitet zu haben. Nur war dieses Jahr deren beruflicher Fortgang ungewiss.

DiplomzeugnisDiplomzeugnisIn Brandenburg traten wir wie geplant unseren Erholungsurlaub an. Die verbleibenden Tage bis zum 1.September, dem offiziellen Dienstbeginn in unseren Einsatztruppenteilen, verbrachten wir mit unseren Familien, im Hinterkopf die Gewissheit, die Ausbildung hinter uns zu haben. Eben die Herrenjahre vor uns… Allerdings waren bis zu diesem Zeitpunkt auch sämtliche persönliche Gegenstände aus den Dienstzimmern an der OHS zu entfernen. Leicht gesagt, hatte sich doch im Laufe der letzte 4 Jahre so einiges in Spind und Bücherschrank angesammelt, das nun seiner „Verlegung“ nach Cottbus, Basepohl, Nordhausen oder anderswo harrte. Ich persönlich hatte einen vollen Vormittag damit zu tun, alle meine Sachen in den (früher undenkbar!) auf dem Hof vor dem Unterkunftsgebäude geparkten Trabant zu laden. Berge von Uniformen. Ein Seesack voll Ausrüstung, denn immerhin gehörten auch solche Dinge wie Schutzausrüstung, Stahlhelm, Fliegerhelm und Elefantenportemonnaie zum mitzuführenden Kram, ebenso Dutzende Bücher, die im Laufe der Jahre ihren Platz im Bücherschrank gefunden hatten. Als der Trabi bis unter das Dach voll gestopft war, ein letzter Gang zum Stabschef der II.HAS. Übergabe der letzten zurückzugebenden Ausrüstungsgegenstände - unverständlicherweise waren dies bei mir die Dosimetertaschen aus den Fliegerkombis. Ein letzter Gruß, und die Offiziershochschule in Brandenburg war persönliche Geschichte.

Truppendienst in NVA und Bundeswehr

Nach der Ernennung zum Leutnant wurden wir in unsere entsprechend festgelegten Truppenteile versetzt. Unsere Einsatzgespräche lagen nun schon lange zurück, bereits Anfang 1990 waren sie mit uns geführt worden und hatten jedem der in unserem Jahrgang noch verbliebenen Absolventen einen Dienstort "verschafft".

Militärluftfahrzeugführerschein MilitärluftfahrzeugführerscheinMeinen Dienst in Cottbus trat ich Ende August 1990 gemeinsam mit 5 weiteren Kameraden an (Genossen waren wir ja nun nicht mehr). Ganz neu war uns die Dienststelle nicht, hatten wir doch schon im Juni einen 3tägigen Besuch im Geschwader abgehalten - das eigentlich übliche Truppenpraktikum, das Offziersschüler nahezu das komplette 4.Studienjahr in den Truppenteilen abhielten, war für die KHG-Kandidaten nicht mehr durchgeführt worden. So beschränkte sich unsere Kenntnis von Cottbus auf wenige Gesichter und noch weniger Räumlichkeiten, von Hubschraubern und Dienstalltag im KHG hatten wir nicht die geringste Ahnung.

MilitärluftfahrzeugführerscheinMilitärluftfahrzeugführerscheinDie Veränderung in der NVA bescherte uns nun wieder einen Militärluftfahrzeugführerschein, also eine in der NVA gültige Lizenz - wie es in unseren (ehemals) sozialistischen Bruderstaaten mit der Anerkennung aussah, entzieht sich meiner Kenntnis. Diese Scheine wurden bereits zu früheren Zeiten schon ein mal ausgestellt, wir kannten sie jedoch nicht, da wohl die letzten 10 Jahre die Ausgabe eingestellt wurde. Der Sinn der erneuten Ausgabe erschließt sich kaum jemandem - in der BRD war das nur ein schönes Stück (DDR-) Papier, mehr nicht. Aber so ziert nun heute ein weiteres Dokument meinen Reliquienschrein.
Eine Lizenz im Sinne der in der BRD gültigen Bestimmungen stellte es nicht dar. Dementsprechend hatten wir als NVA-Piloten keine Papiere und Lizenzen, die uns im neuen Deutschland beruflich legitimierten und weiterbrachten - eine Umschreibung oder Anerkennung gab es nicht und wäre angesichts großräumig anderer Strukturen und Verhaltensweisen im Luftraum wohl auch nicht angemessen gewesen. Die Zeugnisse, die in der BRD erforderlich waren (und sind), mussten in der Folgezeit mit entsprechenden theoretischen Ausbildungen und Prüfungen neu erworben werden.
Die von Außenstehenden oftmals vorgebrachte Frage an uns "Na, du warst doch Pilot - warum bist du dann nicht einfach zu * gegangen und weiter geflogen?" relativiert sich damit - wir hatten keine gültige Anerkennung fliegerischer Abschlüsse, und ohne diese gab es keine Perspektive in anderen Unternehmen (abgesehen davon hatten wir mit unseren 200 oder 300 Flugstunden zu wenig Erfahrung, um dort ernsthaft berücksichtigt zu werden). Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch heute ein Militärpilot in der Bundeswehr nicht automatisch eine zivile Lizenz erhält.

Der allmählich fortschreitende Zerfallsprozess der DDR hatte nun auch die NVA erreicht und in einen bald lethargisch zu nennenden Zustand versetzt. So recht wusste in Cottbus niemand etwas mit uns anzufangen; auch aus dem Munde des Geschwaderstabes einschließlich des Kommandeurs OSL Franke (†1993) war in einem ersten Gruppengespräch ohne Scheu zu hören, dass man kein Problem hätte, wenn sich jemand von uns zur Aufgabe des Offiziersberufes entschließen würde. Galant ausgedrückt.
So bekamen wir 6 Neulinge erst einmal ein Dienstzimmer zugewiesen, in das all unsere Sachen verschwanden, die wir aus Brandenburg "gerettet" hatten. Wir erhielten in loser Abfolge Lehrmaterialien über den Flugplatz, den Rayon und eben alles im Umfeld Cottbus' Notwendige. Somit konnten wir uns zumindest theoretisch vernünftig auf ein Fliegen vorbereiten; Probleme gab es wohl weniger, waren wir doch solche Verfahrensweisen aus unserem bisherigen Leben durchaus gewohnt. Ab und an steckte der Steuermann der Staffel seinen Kopf zu uns ins Zimmer... Später wurden uns auch die "eingedeutschten" Begriffe der Navigation, so wie sie nun wieder in der Bundeswehr üblich war, nahe gebracht- das betraf jedoch den gesamten fliegenden Bestand des Geschwaders.

Der Existenzkampf jedes einzelnen Fliegers um sein eigenes berufliches Fortkommen hatte begonnen; es war abzusehen, dass die in Auflösung begriffene NVA nicht in dieser Form weiter existieren oder komplett in der Bundeswehr aufgehen würde. Wohl oder übel würde sich der Personalbestand lichten. Das war uns zumindest nicht neu, nachdem schon bei der Ernennung "unser" Ministerialbeauftrager vehement von einer notwendigen Dezimierung im Zuge der Übernahme in die Bundeswehr sprach. Von einer führenden, wohlwollenden, kameradschaftlichen Hand des Vorgesetzten war zumindest in meinem Falle nicht mehr viel zu spüren; die Verbundenheit, die man zwischen Fliegern im Allgemeinen und Besatzungsmitgliedern im Besonderen erwartete, war auf der Strecke geblieben, fast so, als seien wir Neuen Fremdkörper. Nur um es klarzustellen: es gab keine Spannungen oder Differenzen in den Ketten (bzw. später Schwärmen) oder Mobbing - aber "etwas" war in den letzten Monaten verschwunden und dem Überlebensdrang der Offiziere zum Opfer gefallen.

Indes bereitete sich der Staat und die NVA auf den Großen Tag vor. Am 3.Oktober würden beide aufhören zu existieren; das Ereignis warf seine Schatten voraus. Ausrüstung und Uniform musste der neuen Bundeswehr angepasst werden. Eines Tages im ausgehenden September war es soweit: neue Uniformen abholen! Dazu mussten wir an einen Standort südöstlich von Cottbus - glücklicherweise gab es für uns den Hubschrauber :-). Also wieder 20 Mann in den Laderaum, halbwegs neutral angezogen im NVA-Trainingsanzug (ohne ASV-Abzeichen...) und in der Dienststelle den Seesack mit Bundeswehr-Uniformen bestückt. Allerdings war die Bundeswehr mit der notwendigen Materialflut wohl überfordert: ein Mangel an kompletten Uniformen und insbesondere an Schulterstücken war unübersehbar. Im KHG-3 Heeresfliegerregiment 3 war sicher kaum die Hälfte der Leutnants mit entsprechenden Dienstgradabzeichen ausgestattet... und geflogen wurde vorerst noch in der blauen NVA-Fliegerkombi. Mit abgetrennten Dienstgradabzeichen. Zumindest schmückte unseren Kopf nun das weinrote Barett. Was hätte die Bundeswehr nur bei einer Mobilmachung angestellt?

Absolventen '90 zum Dienst in Cottbus. Das letzte Bild vor einer Mi-8TB, am Tage vor deren Entwaffnung. Unter uns G.Henfler (†1992)Noch vor dem Tage des Beitritts der DDR zur BRD wurden die Hubschrauber, zumindest Mi-2 und Mi-8, für den Waffeneinsatz untauglich gemacht. Die Mi-24 flog wohl später noch und wurde von der Bundeswehr-WTD-61 in Manching einer Tauglichkeitsstudie unterworfen. Nebenstehendes Bild, das uns 6 frischen Leutnants zeigt, entstand als letztes, historisches Bild vor einer "richtigen" Mi-8TB. Nach den Fototerminen wurden die Aufhängepunkte der Balkenträger am Rumpf mechanisch zerstört. Die MGs und Bombenvisiere wurden entfernt. Derartig kastriert waren sie keine Waffe mehr und nur noch zu Transport- bzw. Verbindungsaufgaben brauchbar.

Letzter Flugbucheintrag, November 1990Aus diesen Anfangszeiten der Bundeswehr in Cottbus stammt auch mein persönlicher letzter Flugbucheintrag. Im November 1990 absolvierte ich meinen ersten und letzten richtigen Flug in einer Mi-8 im Cottbuser Geschwader. 40 Minuten Rayonabflug. Bis zum Ende meiner Zeit in Cottbus am 30.11.1990 kam auch nicht mehr viel hinzu: eine Stunde durfte ich als 3.HSF, auf dem BT-Platz sitzend, an einem Flug nach Dresden-Klotzsche mitfliegen, um einen wichtigen Offizier nach Cottbus zu bringen. Den 3.HSF gab es nicht offziell, und so gibt es auch keinen Eintrag im Flugbuch. Einzige Aufgabe: gucken.

Rückblickend kann ich nicht einmal sagen, dass ich große Wehmut empfand angesichts dieses letzten Fluges. Vielleicht war mir es auch so nicht bewusst, und das gesamte andere Umfeld, das ich in den vergangenen 3 Monaten kennen gelernt hatte, tat so sein Übriges. Für mich stand - auf eigenen Wunsch - die Entlassung am 30.11.1990 an, auf mich wartete ein neues, aufregendes und buntes, erfolgreiches Leben in der Bundesrepublik Deutschland. Der verlorene Augenblick des Fliegens wurde mir erst viel später bewusst.

Das NVA-Kampfhubschraubergeschwader 3 war in das Bundeswehr-Heeresfliegerregiment 3 umbenannt worden.